Arbeitsrechtsmandate mit grenzüberschreitendem Bezug in der EU
Welches materielle Arbeitsrecht gilt?
Welches Gericht wäre in solchen Fällen zuständig?
Immer wieder landen in der alltäglichen arbeitsrechtlichen Praxis Fälle mit grenzüberschreitendem Bezug. Wie geht man damit um (außer sofortiger Ablehnung)? Der Verfasser beschränkt sich hier auf die EU und gibt nur einige Hinweise in der Hoffnung damit das Thema für den praktischen Fallgebrauch ein klein wenig aufzuhellen. Grenzüberschreitender Bezug meint also, dass ein Arbeitnehmer in einem anderen Land als seinem Wohnort seine Tätigkeiten erbringt. Dann stellen sich folgende prinzipielle Fragen:
- Erstens: Welches materielle Recht gilt für das Arbeitsverhältnis?
- Zweitens: Welches Gericht, welche Gerichte wären im Zweifel für Streitigkeiten zuständig?
Zur Beantwortung beider Fragen existieren europäische Regelungen, die die Regelungen aus dem EGBGB insoweit abgelöst haben.
Regelungen
Bei Individualarbeitsverträgen gilt Artikel 8 der Rom-I-Verordnung, und für die Frage nach der Zuständigkeit der Gerichte bei Streitigkeiten aus dem grenzüberschreitenden Individualarbeitsverhältnis gelten die Artikel 20, 21, 22 und 23 der EuGVVO.
Zur Geltung des materiellen Arbeitsrechts
Artikel 8 sieht vor, dass die Parteien ein Recht wählen können nach Artikel 3 Rom-I-VO. Weiter sagt Artikel 8 Absatz 1 Satz 2, dass die Rechtswahl der Parteien jedoch nicht dazu führen darf, dass dem Arbeitnehmer der Schutz entzogen würde, der ihm durch Bestimmungen gewährt wird, von denen nach dem Recht, das nach den Absätzen 2, 3 und 4 des vorliegenden Artikels mangels einer Rechtswahl anzuwenden wäre, nicht durch Vereinbarung abgewichen werden darf. Wow: hoch kompliziert. Gemeint ist: Sie vereinbaren ein materielles Recht. Sie müssen dann prüfen, welches Recht ohne Vereinbarung gälte (nach den Anknüpfungen der Absätze 2-4) und ob es dort nicht dispositive Regelungen gibt. Wenn Sie das dem Grunde nach feststellen, müssen Sie dann prüfen, ob das gewählte Recht dem Arbeitnehmer den Schutz zwingender arbeitsrechtlicher Normen des gem. Art. 8 Abs. 2-4 entzieht. Das kann nur durch einen Vergleich beider Rechtsordnungen insoweit erfolgen. Es ist auf die jeweiligen Ergebnisse abzustellen, zu denen man in den jeweiligen Teilbereichen beider Rechte konkret gelangt.
In den Absätzen 2, 3 und 4 ist Folgendes geregelt:
- Absatz 2: Wenn die Parteien keine Rechtswahl vornehmen, unterliegt der Arbeitsvertrag dem Recht des Staates, in dem oder andernfalls von dem aus der Arbeitnehmer in Erfüllung des Vertrages gewöhnlich seine Arbeit verrichtet.
- Absatz 3: Wenn das anzuwendende Recht auch nach Absatz 2 nicht bestimmt werden kann, unterliegt der Vertrag dem Recht des Staates, in dem sich die Niederlassung befindet, die den Arbeitnehmer eingestellt hat.
- Absatz 4: Wenn sich aus der Gesamtheit der Umstände ergibt, dass der Vertrag eine engere Verbindung zu einem anderen als dem in Absatz 2 oder 3 bezeichneten Staat aufweist, ist das Recht dieses anderen Staates anzuwenden.
Was heißt das nun?
Liegt ein Arbeitsrechtsfall im Sinne des Art. 8 vor?
Zunächst zum Arbeitnehmerbegriff des EuGH
Hier hat der EuGH eine weite Auslegung des Arbeitnehmerbegriffs vorgenommen, denn nach dem Grundsatz der größtmöglichen Wirksamkeit des EU-Rechts ist das zwingend. Ein Arbeitnehmer ist also, wer „während einer bestimmten Zeit für einen anderen nach dessen Weisungen Leistungen erbringt, für die er als Gegenleistung eine Vergütung erhält" (siehe Entscheidung des EuGH vom 19.06.2014, Rs. C-507/12). So sind also viele nach deutschem Recht nicht als Arbeitnehmer anzusehende Personen nach der Definition des EuGH als solche anzusehen, z. B. Studienreferendare, Feuerwehrbeamte, sonstige Beamte, Alleingeschäftsführer einer juristischen Person lettischen Rechts (auch für den Mutterschutz), Richterinnen, Teilzeitrichter, sozialversicherungsrechtliche Dozenten, angestellte Profisportler usw.
Gibt es eine Rechtswahlvereinbarung?
Hier sieht man am besten in den meistens schriftlich formulierten Arbeitsverträgen nach, ob eine Rechtswahlvereinbarung getroffen wurde, aus der sich ergibt, welches materielle Recht (in der Regel eines Nationalstaates) gelten soll (Art 3. lässt auch in Grenzen eine nicht ausdrückliche Rechtswahl gelten).
Wenn das festgestellt ist, müssen die Absätze 2, 3 und 4 des Art. 8 geprüft werden, um anhand der konkreten Fallfrage (z.B. Geltung der Entgeltfortzahlung nach (subjektiv) vereinbartem oder objektivem Recht) entscheiden zu können, ob hier eventuell nicht das Recht, das qua Wahl vereinbart wurde, sondern das Recht der Absätze 2, 3 oder 4 zur Geltung kommt. Es muss also jetzt geprüft werden, welches Recht, wenn keine Wahl getroffen worden wäre, gelten würde und ob dieses Recht zwingende Vorschriften enthält, von denen qua Rechtswahl nicht abgewichen werden kann. Der EuGH hat dies zum Beispiel entschieden für das deutsche Recht, das nämlich von dem besonderen Kündigungsschutz des §15 Kündigungsschutzgesetz nicht durch die Wahl einer anderen Rechtsordnung abgewichen werden darf.
Gewöhnlicher Arbeitsort
Nach Artikel 8 Absatz 2 ist der „gewöhnliche Arbeitsort“ für den EuGH entscheidend zur Frage, welches Recht abseits der Rechtswahl gelte. Der gewöhnliche Arbeitsort ist ein Begriff aus Artikel 6 Absatz 2 Satz 1 der Rom-I-Verordnung, und der Arbeitnehmer nimmt von hier aus üblicherweise am besten seine Interessen wahr. Ist der Arbeitnehmer in einen Betrieb eingegliedert, so ist auf den Ort des Betriebes abzustellen. In den übrigen Fällen ist der Ort entscheidend, an dem das Arbeitsverhältnis seinen Schwerpunkt hat. Durch den Anknüpfungspunkt Arbeitsort wird eine Gleichbehandlung mit dem Sozialversicherungsrecht erreicht. In beiden Rechtsgebieten stellt man darauf ab, welche Rechtsordnung ausstrahlt. Bei ortsgebundenem Bodenpersonal von Fluggesellschaften gilt in der Regel als Arbeitsort die Zweigstelle, für die das Bodenpersonal tätig ist. Dagegen lässt sich beim Flugpersonal ein gewöhnlicher Arbeitsort, auf den es in erster Linie ankommt, häufig nicht feststellen. Als Arbeitsort wird daher beim fliegenden Personal auf das Recht des Sitzes der Fluggesellschaft abgestellt, und zwar insbesondere dann, wenn das fliegende Personal auch die Staatsangehörigkeit des Firmensitzes hat.
Zwei Fälle des EuGH dazu
Im Fall Voogsgeerd (EuGH vom 15.12.2011, Rs. C-384/10) hat der EuGH die Kriterien des Artikels 8 Absatzes 2 etwas verfeinert. In Fällen, in denen der Arbeitnehmer seine Lkw-Fahrer-Tätigkeit in mehreren Staaten verrichtet, soll der Ort, von dem aus der Arbeitnehmer seine Tätigkeit aufnimmt und in dem er Weisungen empfängt, von besonderer Bedeutung sein. Ebenso gilt für die Entscheidung des Arbeitsortes der Ort der einstellenden Niederlassung, nämlich dort, wo der Arbeitnehmer den Arbeitsvertrag geschlossen hat oder das Arbeitsverhältnis begründet worden sei. Diese einstellende Niederlassung muss auch keine rechtlich verselbständigte Einheit sein.
In dem Leitsatz Nummer 5 zu der oben angegebenen Entscheidung führt der EuGH folgendes aus: „Daher sind unter Berücksichtigung des Wesens der Arbeit in der Seefahrt sämtliche Umstände zu berücksichtigen, die die Tätigkeit des Arbeitnehmers kennzeichnen, und es ist zu bestimmen, in welchem Staat sich der Ort befindet, von dem aus der Arbeitnehmer seine Transportfahrten durchführt, Anweisungen zu diesen Fahrten erhält und seine Arbeit organisiert, sowie der Ort, an dem sich seine Arbeitsmittel befinden. (Rn. 38)"
In der Koelzsch-Entscheidung (EuGH vom 05.03.2011, Rs. C-29/10) war es so, dass der Kläger in Deutschland lebte und in verschiedenen anderen europäischen Ländern Transportfahrzeuge bewegte, aber immer wieder an seinen Wohnort zurückkehrte. Hier hat der EuGH entschieden, dass das Recht des Staates anzuwenden sei, in dem der Arbeitnehmer in Erfüllung des Vertrages gewöhnlich seine Arbeit verrichte, und das sei so auszulegen, dass, wenn der Arbeitnehmer seine Arbeitsleistung in mehreren Staaten erbringe, aber regelmäßig in einen von diesen zurückkehre, dieser Staat, als derjenige anzusehen sei, in dem der Arbeitnehmer gewöhnlich seine Arbeit verrichte.
Recht der Niederlassung
Sollte nach Artikel 8 Absatz 2 kein Arbeitsort zu bestimmen sein, muss gemäß Absatz 3 das Recht des Staates der Niederlassung, die den Arbeitnehmer eingestellt hat, als Anknüpfungspunkt geprüft werden. Nach der EuGH-Rechtsprechung kommt das Recht der Niederlassung nur nachrangig zur Anwendung. Der EuGH ist der Auffassung, dass in Fällen, in denen der Arbeitnehmer seine Berufstätigkeit in mehreren Staaten verrichtet, ein besonderes Bedürfnis bestehe, dem Arbeitnehmer als schwächerer Partei einen angemessenen Schutz zu gewährleisten, und dementsprechend eben die Nachrangigkeit des Rechts der Niederlassung besteht. Denn welche Niederlassung einstellt, kann sehr zufällig sein.
Art. 9 Eingriffsnormen
Selbst wenn das gewählte Recht auf der Folie des Art. 8 für die konkrete Frage gültig sein sollte, ist weiter zu prüfen, ob ein Fall des Art. 9 vorliegt. Eingriffsnormen sind international zwingende Vorschriften eines Staates. Sie müssen internationalen Geltungsanspruch und überindividuelle Zielsetzung haben. Dies gilt insb. für die Eingriffsnormen des öffentlichen Rechts, kann aber auch für Sonderprivatrecht (Bsp. Wettbewerbsschutz) gelten.
Nach Absatz 2 bleibt die Anwendung von Eingriffsnormen des Rechts des Landes des angerufenen Gerichts unberührt. Die Rom-I-VO lässt die Normen eines Landes, in welchem ein Gericht zuständig ist, neben denen der VO bestehen. Es muss sich nur um eine Eingriffsnorm dort handeln.
Soweit zur Geltung des materiellen Rechts.
Nun zur Frage, welches Gericht zuständig ist
Die Zuständigkeit der Gerichte bemisst sich in der EU besonders für Streitigkeiten aus einem Arbeitsverhältnis nach Artikel 19 Ziffer 2 der EuGVVO. In den Artikeln 20, 21, 22 und 23 der EuGVVO findet sich dazu weiteres. Die Anknüpfungspunkte sind denen des Art. 8 oben sehr ähnlich.
Im Großen und Ganzen kann Folgendes gesagt werden:
Es muss unterschieden werden: wer will klagen.
Nach Artikel 22 darf ein Arbeitgeber den Arbeitnehmer nur vor den Gerichten des Mitgliedsstaats verklagen, in dessen Hoheitsgebiet der Arbeitnehmer seinen Wohnsitz hat.
Davon darf nur abgewichen werden, wenn entweder eine Gerichtsstandsvereinbarung nach Entstehung der Streitigkeit getroffen wurde oder dem Arbeitnehmer weitere Gerichtszuständigkeiten eingeräumt werden, als die sich aus der EuGVVO ergebenden (von denen er einen wählen kann).
Artikel 21 EuGVVO sagt, wo man den Arbeitgeber verklagen kann, nämlich entweder vor den Gerichten des Mitgliedsstaats, in dem der Arbeitgeber seinen Wohnsitz hat (Art. 21 Abs. 1 a) oder vor den Gerichten eines anderen Mitgliedsstaates, und zwar an dem Gericht des Ortes, an dem oder von dem aus der Arbeitnehmer gewöhnlich seine Arbeit verrichtet (Art. 21 Abs. 1 b) i)). Oder, wenn der Arbeitnehmer seine Arbeit nicht in ein und demselben Staat verrichtet, vor dem Gericht des Ortes, an dem sich die Niederlassung, die den Arbeitnehmer eingestellt hat, befindet oder befand (Art. 21 Abs. 1 b)ii)).
Sollte der Arbeitgeber in keinem Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates seinen Wohnsitz haben, dann gelten gem. Art. 21 Abs. 2 die Vorschriften des Absatzes 1 Buchstabe b.
Sonstiges
Es ist also durchaus möglich, dass zum Beispiel die deutsche Arbeitsgerichtsbarkeit zuständig ist, aber materiell fremdes Recht anwenden muss (Kenntnisverschaffung dem Gericht möglich auch mittels Sachverständigengutachten durch Professoren, das MPI oder Anwälte in den jeweiligen Ländern). Hier lauern nun diverse Haftungsgefahren für den Anwalt. Klar ist, dass das Prozessrecht des jeweils zuständigen Gerichts gilt, aber auch die ausländischen materiellen geltenden Rechtsnormen.
Das bedeutet: in Italien z.B. muss bei Kündigungen unter gewissen Voraussetzungen innerhalb einer gewissen Frist der Kündigung widersprochen (impugnazione: 60 Tage nach Kündigungserhalt) und Kündigungsschutzklage (180 Kalendertage nach Absendung der impugnazione) eingereicht werden. Wenn es sich um materiell-rechtliche Fristen handeln sollte, wären diese einzuhalten, weil ansonsten Anspruchsverlust wegen des Verstreichenlassens durch das (deutsche) Arbeitsgericht droht.
Fraglich ist auch, inwieweit §§ 174, 180 BGB bei der Zuständigkeit deutscher Gerichtsbarkeit anwendbar ist. In einem Fall mit UK vor dem Brexit wurde dies vom LAG Berlin Brandenburg (Urteil vom 29.04.2015, 19 Sa 1298/14) so gesehen.
Die einzige haftungsarme Variante ist, alle Fallstricke beider Rechte zu wahren und also auf der Folie beider Rechte alles geltend zu machen, was insofern schwerfallen dürfte, als nur wenige beide Rechtsgebiete beherrschen. Und insofern liegt also der Zwang zur Kooperation mit Kolleginnen und Kollegen, die zum Beispiel das Arbeitsrecht in anderen EU-Staaten machen, nahe.
Bitte denken Sie bei möglicher Vollstreckung im EU-Ausland an die Erteilung einer Bescheinigung gemäß Artikel 53 EuGVVO, sodass Sie also auch bei einem von einem deutschen Arbeitsgericht gesprochenen Urteil am Wohnsitz des Arbeitgebers vollstrecken könnten und umgekehrt.
Nach Lektüre der einschlägigen ARBs dürfte es wie folgt sein: wenn aus der Sicht eines in Deutschland rechtsschutzversicherten Arbeitnehmers ein Arbeitsgerichtsfall in zum Beispiel Italien anhängig wäre, dann würde wohl die Rechtsschutzversicherung zwei Anwälte bezahlen (einen dortigen und einen einheimischen). Andersherum, also der Fall spielt in Deutschland und es gilt materiell italienisches Arbeitsrecht, wird wohl nur ein Anwalt von der Rechtsschutzversicherung bezahlt.
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