Das selbständige Beweisverfahren
Liebert & Röth Rechtsanwälte, wir machen Baurecht in Berlin & bundesweit
Das selbständige Beweisverfahren ist ein gerichtliches Verfahren, das in den §§ 485 ff. der Zivilprozessordnung (ZPO) geregelt ist.
Es handelt sich um ein besonderes Instrument zur Beweissicherung, das dem eigentlichen Gerichtsverfahren (Hauptsacheverfahren) vorgeschaltet werden kann. Dieses Verfahren findet besonders häufig im Baurecht Anwendung, ist aber nicht auf diesen Bereich beschränkt.
Die Hauptaufgabe des selbständigen Beweisverfahrens ist die Sicherung von Beweismitteln, wenn an dieser Sicherung ein rechtliches Interesse besteht oder wenn durch die Beweiserhebung ein späterer Rechtsstreit vermieden werden kann.
Das selbständige Beweisverfahren kann insbesondere dann sinnvoll sein, wenn:
- Beweismittel zu verloren zu gehen drohen (z.B. durch Fortschreiten der Bauarbeiten)
- Eine zeitnahe Begutachtung von Mängeln erforderlich ist
- Die Ursache eines Schadens festgestellt werden soll
- Der Aufwand für die Beseitigung eines Mangels ermittelt werden soll
- Eine lange Verfahrensdauer im Hauptsacheprozess zu befürchten ist
Seit seiner Einführung im Jahr 1991 hat das selbständige Beweisverfahren das frühere Beweissicherungsverfahren abgelöst und bietet nun umfassendere Möglichkeiten zur Beweissicherung vor einem möglichen Hauptsacheverfahren.
Arten und Voraussetzungen des selbständigen Beweisverfahrens
Das Gesetz unterscheidet drei verschiedene Arten des selbständigen Beweisverfahrens, die jeweils unterschiedliche Voraussetzungen für ihre Zulässigkeit haben:
Das einvernehmliche Beweissicherungsverfahren (§ 485 Abs. 1, 1. Alt. ZPO)
Dieses Verfahren wird mit Zustimmung der Gegenpartei eingeleitet. Es ist stets zulässig und kann auch dann beantragt werden, wenn bereits ein Rechtsstreit anhängig ist. Zu beachten ist, dass die einmal erteilte Zustimmung während des Verfahrens nicht zurückgenommen werden kann.
Das streitige Beweissicherungsverfahren wegen Besorgnis des Verlustes von Beweismitteln (§ 485 Abs. 1, 2. Alt. ZPO)
In diesem Fall muss die Gefahr bestehen, dass ein Beweismittel verloren geht oder seine Benutzung erschwert wird. Dies ist beispielsweise bei Baumängeln häufig der Fall, wenn durch fortschreitende Bauarbeiten die Feststellung der Mängel später nicht mehr oder nur mit erheblichem Aufwand möglich wäre. Auch wenn ein wichtiger Zeuge schwer erkrankt ist oder ins Ausland geht, kann diese Voraussetzung erfüllt sein.
Das OLG Hamm (Az: OLG Hamm 19 W 48/09, Beschluss vom 15.01.2010) hat in bestätigt, dass ein selbständiges Beweisverfahren auch dann zulässig ist, wenn eine Reparatur oder Schadensbeseitigung zwingend notwendig oder zu einem bestimmten Zeitpunkt gewollt ist.
Das streitschlichtende Beweissicherungsverfahren (§ 485 Abs. 2 ZPO)
Bei dieser Art des Beweisverfahrens ist ein rechtliches Interesse auf Seiten des Antragstellers erforderlich. Dieses rechtliche Interesse wird vom Gesetz vermutet, wenn das Verfahren der Vermeidung eines Rechtsstreits dienen kann.
Nach § 485 Abs. 2 ZPO kann die schriftliche Begutachtung beantragt werden über:
- Den Zustand einer Person oder den Zustand oder Wert einer Sache
- Die Ursache eines Personenschadens, Sachschadens oder Sachmangels
- Den Aufwand für die Beseitigung eines Personenschadens, Sachschadens oder Sachmangels
Das Gericht prüft dabei nicht, ob die festzustellenden Tatsachen für ein späteres Gerichtsverfahren von Bedeutung sind, da das selbständige Beweisverfahren nur der Feststellung von Tatsachen dient und keine Prüfung der Schlüssigkeit erfordert.
Ablauf eines selbständigen Beweisverfahrens
Der Ablauf eines selbständigen Beweisverfahrens lässt sich in mehrere Phasen unterteilen:
Antragstellung
Zur Einleitung des Verfahrens ist ein Antrag einer Partei erforderlich. Obwohl grundsätzlich kein Anwaltszwang besteht, ist die Einschaltung eines Rechtsanwalts dringend zu empfehlen, um verwertbare Ergebnisse zu erzielen. Der Antrag sollte sorgfältig formuliert werden und insbesondere die zu beantwortenden Beweisfragen präzise enthalten.
Die Beweisfragen sollten nach dem Schema "Entspricht der Ist-Zustand dem Soll-Zustand?" formuliert werden.
Beispiel:
Entspricht die ausgeführte Dämmung den Anforderungen der Energieeinsparverordnung?
Gerichtliche Prüfung und Bestellung des Sachverständigen
Das Gericht prüft die Zulässigkeit des Antrags und bestellt im Falle der Bewilligung einen öffentlich bestellten und vereidigten Sachverständigen. Dieser muss zunächst prüfen, ob er über die notwendige Fachkompetenz zur Erstellung eines Gutachtens verfügt.
Ortstermin und Beweisaufnahme
Zur Erhebung der Tatsachen werden ein oder mehrere Ortstermine zur Begutachtung durchgeführt. Zu diesen Terminen werden beide Parteien vom Gerichtsgutachter geladen. Die Ladung erfolgt in der Regel etwa zwei Wochen vor dem Termin. Bei der Beweisaufnahme sollte die Befundaufnahme möglichst präzise erfolgen, da alle erstellten Unterlagen (Fotos, Notizen, Pläne) dem Gutachten beigefügt werden und Beweiskraft vor Gericht haben.
Erstellung des Gutachtens
Nach dem Ortstermin erstellt der Sachverständige ein schriftliches Gutachten. Dieser Prozess kann mehrere Wochen bis Monate in Anspruch nehmen. Die Qualität des Gutachtens hängt stark von der fachlichen Kompetenz des Sachverständigen ab.
Stellungnahme der Parteien
Nach Vorlage des Gutachtens können beide Parteien Stellung nehmen und gegebenenfalls Ergänzungsfragen stellen oder ein Ergänzungsgutachten beantragen. Dies dient der Klärung neu aufgekommener Sachverhalte oder der ausführlicheren Erörterung bestimmter Aspekte.
Abschluss des Verfahrens
Das selbständige Beweisverfahren endet mit dem Vorliegen der Ergebnisse für beide Parteien. Anders als ein Klageverfahren endet es nicht mit einer gerichtlichen Entscheidung, sondern in dem Moment, in dem die Beweisaufnahme beendet ist, was in der Regel mit dem Eingang des Sachverständigengutachtens gegeben ist.
Wirkung und Bedeutung des selbständigen Beweisverfahrens
Verjährungshemmung
Mit der Zustellung des Antrags auf Durchführung eines selbständigen Beweisverfahrens wird die Verjährung der Ansprüche nach § 204 Abs. 1 Nr. 7 BGB gehemmt. Dies kann besonders wichtig sein, wenn Verjährungsfristen abzulaufen drohen. Nach Abschluss des Verfahrens beginnt die Verjährungsfrist neu zu laufen.
Beweiskraft im Hauptsacheverfahren
Nach § 493 ZPO können sich beide Prozessparteien in einem späteren Hauptsacheverfahren auf das Ergebnis des selbständigen Beweisverfahrens berufen, als wäre der Beweis im Hauptprozess selbst erhoben worden. Eine erneute Begutachtung ist nach § 485 Abs. 3 ZPO nur unter den Voraussetzungen des § 412 ZPO möglich, nämlich wenn:
- Der Sachverständige mit Erfolg abgelehnt wurde (z.B. wegen Befangenheit)
- Das Gutachten als ungenügend bewertet wird
Dies bedeutet, dass die Ergebnisse des selbständigen Beweisverfahrens eine starke Bindungswirkung entfalten können und eine erneute Beweisaufnahme im Hauptsacheverfahren oft nicht mehr erforderlich ist.
Streitschlichtende Funktion
Ein wichtiger Aspekt des selbständigen Beweisverfahrens ist seine streitschlichtende Funktion. Häufig führt ein objektives Sachverständigengutachten dazu, dass die Parteien auf Basis der festgestellten Tatsachen eine außergerichtliche Einigung erzielen können und ein langwieriges und kostenintensives Hauptsacheverfahren vermieden wird.
Das selbständige Beweisverfahren aus Sicht des Antragsgegners
Wird man als Antragsgegner mit einem selbständigen Beweisverfahren konfrontiert, sollte man dieses keinesfalls ignorieren. Vielmehr ist es wichtig, aktiv an dem Verfahren teilzunehmen, um die eigenen Rechte zu wahren.
Folgende Punkte sind für Antragsgegner besonders zu beachten:
- Einen Ortstermin sollte man unbedingt wahrnehmen, idealerweise in Begleitung eines Rechtsanwalts
- Durch eigene Beweisfragen kann man das Ergebnis der Beweisaufnahme beeinflussen
- Bei negativen Feststellungen im Gutachten sollte dieses kritisch geprüft werden
- Einwendungen sollten rechtzeitig vorgebracht werden, da sie nach § 485 Abs. 3 ZPO in einem Hauptsacheverfahren unter Umständen nicht mehr berücksichtigt werden können
Ein Beispiel aus der Praxis:
Es wird über einen Mangel am Parkett gestritten. Der Sachverständige stellt im selbständigen Beweisverfahren einen solchen Mangel fest. Der Antragsteller beantragt die Feststellung, dass die Mängelbeseitigung nur durch Austausch des gesamten Parketts erfolgen kann. Hat der Antragsgegner Kenntnis von alternativen, kostengünstigeren Mängelbeseitigungsmöglichkeiten, sollte er diese bereits im Beweisverfahren durch eigene Beweisfragen einbringen.
Streitverkündung im selbständigen Beweisverfahren
Eine Streitverkündung ist bereits im selbständigen Beweisverfahren zulässig, obwohl § 72 Abs. 2 ZPO von einem Rechtsstreit spricht. Dies kann insbesondere für Bauunternehmer relevant sein, die als Antragsgegner auftreten und die Möglichkeit haben, ihre Subunternehmer am Verfahren zu beteiligen.
Die Vorteile einer Streitverkündung sind:
- Der Streitverkündungsempfänger wird an die Ergebnisse des Beweisverfahrens gebunden (Interventionswirkung nach § 68 ZPO)
- Der Streitverkündungsempfänger kann aktiv in das Verfahren eingreifen
- Die Verjährung zwischen Antragsgegner und Streitverkündungsempfänger wird gehemmt
Auch als Streitverkündeter sollte man eine Verteidigung im Verfahren in Betracht ziehen, da die festgestellten Umstände sonst auch gegenüber dem Streitverkündeten als festgestellt gelten würden.
Kosten des selbständigen Beweisverfahrens
Die Kosten eines selbständigen Beweisverfahrens setzen sich aus zwei Hauptkomponenten zusammen:
Gerichtskosten
Für die Gerichtskosten fällt eine einfache (1,0) Gebühr nach Nr. 1610 KV des Gerichtskostengesetzes (GKG) an. Im Vergleich dazu wird für streitige erstinstanzliche Verfahren eine dreifache (3,0) Gebühr nach Ziff. 1210, 1220, 1230 der Anlage 1 zum GKG erhoben.
Sachverständigenkosten
Hinzu kommen die Kosten für den Sachverständigen, die nach dem Justizvergütungs- und -entschädigungsgesetz abgerechnet werden. Diese hängen von Art und Umfang der Beweisaufnahme ab und werden nach Stundenaufwand berechnet. Zusätzlich können Kosten für Bauteilöffnungen, Laboruntersuchungen oder sonstige Untersuchungen anfallen.
Anwaltskosten
Obwohl keine Anwaltspflicht besteht, fallen in der Regel auch Rechtsanwaltsgebühren an, die sich nach dem Streitwert richten.
Eine Entscheidung darüber, wer die Kosten des Verfahrens zu tragen hat, erfolgt in der Regel erst im Hauptsacheverfahren. Dies bedeutet, dass zunächst der Antragsteller die Kosten vorzustrecken hat. Kommt es aufgrund der Ergebnisse des selbständigen Beweisverfahrens nicht zu einem Hauptsacheverfahren, kann das Gericht gemäß § 494a ZPO dem Antragsteller die Kosten auferlegen, wenn der Antragsgegner eine Frist zur Klageerhebung gesetzt hat und diese versäumt wurde.
Vor- und Nachteile des selbständigen Beweisverfahrens
Vorteile
Das selbständige Beweisverfahren bietet zahlreiche Vorteile gegenüber einer sofortigen Klageerhebung:
- Geringere Kosten, da zunächst nur eine 1,0-Gebühr anstatt einer 3,0-Gebühr anfällt
- Hemmung der Verjährung
- Höhere Beweiskraft des Gutachtens im Vergleich zu privat beauftragten Gutachten
- Möglichkeit der streitschlichtenden Wirkung und damit Vermeidung eines langwierigen Hauptsacheverfahrens
- Zeitnahe Sicherung von Beweismitteln
- Möglichkeit der Fortsetzung der Bauarbeiten nach Begutachtung
Nachteile
Allerdings gibt es auch einige Nachteile zu beachten:
- Verfahrensdauer kann je nach Komplexität mehrere Monate bis über ein Jahr betragen
- Kosten für den Sachverständigen können erheblich sein
- Bei unsachgemäßer Formulierung der Beweisfragen besteht die Gefahr unverwertbarer Ergebnisse
- Keine abschließende rechtliche Bewertung, sondern nur Tatsachenfeststellung
Empfehlungen für die Praxis
Auf Basis der vorgestellten Informationen lassen sich folgende Empfehlungen für die Praxis ableiten:
Für Antragsteller:
- Sorgfältige Vorbereitung des Antrags und der Beweisfragen, idealerweise mit anwaltlicher Unterstützung
- Berücksichtigung alternativer Verfahren wie Privatgutachten für einfachere Fälle
- Abwägung der Kosten gegenüber dem potenziellen Nutzen
- Berücksichtigung der Verfahrensdauer bei zeitkritischen Projekten
Für Antragsgegner:
- Aktive Teilnahme am Verfahren zur Wahrung der eigenen Rechte
- Formulierung eigener Beweisfragen und ggf. Gegenanträge
- Kritische Prüfung des Gutachtens und rechtzeitige Einwendungen
- Erwägung einer Streitverkündung gegenüber Dritten
Für beide Seiten:
- Offenheit für eine außergerichtliche Einigung auf Basis des Sachverständigengutachtens
- Sorgfältige Dokumentation während der Bauphase zur Vermeidung späterer Beweisschwierigkeiten
- Begleitung durch einen im Baurecht erfahrenen Rechtsanwalt
Fazit
Das selbständige Beweisverfahren ist ein wertvolles Instrument nicht nur, aber vorwiegend im Baurecht, das eine frühzeitige Beweissicherung ermöglicht und oft zur Vermeidung langwieriger Hauptsacheverfahren beiträgt.
Es bietet sowohl für Bauunternehmer als auch für Bauherren und Eigentümer die Möglichkeit, streitige Sachverhalte durch einen neutralen Sachverständigen klären zu lassen.
Besonders in Fällen drohenden Beweisverlusts, bei der Notwendigkeit zeitnaher Mängelbeseitigung oder zur Verjährungshemmung kann das selbständige Beweisverfahren sinnvoll sein. Die sorgfältige Vorbereitung und fachkundige Begleitung des Verfahrens sind dabei entscheidend für den Erfolg.
Für eine erfolgreiche Durchführung eines selbständigen Beweisverfahrens empfiehlt sich stets die Beratung durch einen im Baurecht spezialisierten Rechtsanwalt, der die Interessen der Partei optimal vertreten und das Verfahren zielgerichtet steuern kann.
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