Überbau im Nachbarrecht
Rechtliche Grundlagen und Handlungsmöglichkeiten
Rechtsanwälte Liebert & Röth | Immobilienrecht in Berlin & bundesweit
Als seit mehr als 20 Jahren im Grundstücks- und Immobilienrecht tätiger Rechtsanwalt möchte ich Ihnen einen umfassenden Überblick über das Thema Überbau im Nachbarrecht geben. Dieser Artikel erklärt, welche Rechte und Pflichten bei Grenzüberschreitungen durch Bauwerke bestehen und welche Handlungsmöglichkeiten Sie als betroffener Grundstückseigentümer oder Bauherr haben.
Was ist ein Überbau im rechtlichen Sinne?
Um einen Überbau handelt es sich im Nachbarrecht, wenn der Eigentümer eines Grundstücks bei der Errichtung eines Gebäudes über die Grundstücksgrenze gebaut hat. Die Grundstücksgrenze begrenzt das Eigentum und damit das Herrschaftsrecht an einem Grundstück und seinen Bestandteilen.
Ein Überbau kann in verschiedenen Formen auftreten:
- Oberirdisch (z.B. durch überhängende Gebäudeteile, Dachvorsprünge, Balkone)
- Ebenerdige Überschreitungen der Grundstücksgrenze
- Unterirdisch (z.B. durch Keller oder Fundamente)
- Im Luftraum des Nachbargrundstücks (z.B. durch Dachüberstände)
Wichtig zu wissen: Nicht jede bauliche Anlage gilt rechtlich als Überbau. Es muss sich um ein Gebäude oder größeres Bauwerk handeln, das fest mit dem Erdboden verbunden ist. Zäune, Mauern, seitlich offene Carports oder leicht versetzbare Gartenhäuser fallen nicht darunter.
Gesetzliche Grundlagen des Überbaus
Die rechtliche Regelung des Überbaus findet sich primär in den §§ 912 bis 916 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB). Diese Bestimmungen sollen einen Interessenausgleich zwischen den beteiligten Eigentümern schaffen und wirtschaftliche Wertverluste durch Abriss verhindern.
Der zentrale § 912 BGB regelt die Duldungspflicht bei unverschuldetem Überbau. Er sieht vor, dass der betroffene Nachbar einen Überbau dulden muss, wenn:
- der Eigentümer des anderen Grundstücks beim Bau nicht vorsätzlich oder grob fahrlässig gehandelt hat, und
- der betroffene Nachbar nicht vor oder sofort nach der Grenzüberschreitung Widerspruch erhoben hat.
Zusätzlich haben einige Bundesländer spezielle Regelungen zum Überbau in ihren Nachbarrechtsgesetzen getroffen, insbesondere für nachträgliche Wärmedämmung an Gebäuden.
Wann muss ein Überbau geduldet werden?
Die Duldungspflicht nach § 912 BGB tritt unter folgenden Voraussetzungen ein:
- Kein vorsätzliches oder grob fahrlässiges Handeln des Überbauenden
- Grobe Fahrlässigkeit liegt laut BGH-Rechtsprechung bereits vor, wenn in Grenznähe gebaut wird, ohne die genaue Grenze durch einen Vermessungsingenieur feststellen zu lassen (BGH, Urt. v. 19.09.2003 – V ZR 360/02).
- Eine ausdrückliche Zustimmung des betroffenen Eigentümers schließt jedes Verschulden aus.
- Kein rechtzeitiger Widerspruch des betroffenen Eigentümers
- Der Widerspruch muss vor oder sofort nach erkennbarer Grenzüberschreitung erhoben werden.
- "Sofort" bedeutet so frühzeitig, dass der Überbau noch ohne erhebliche Zerstörung beseitigt werden kann.
- Der Widerspruch ist formfrei wirksam, sollte aber aus Beweisgründen schriftlich erfolgen.
- Keine weiteren Rechtsverletzungen über den Überbau hinaus
- Der BGH hat entschieden, dass keine Duldungspflicht besteht, wenn über die Grenzüberschreitung hinaus weitere Beeinträchtigungen vorliegen, beispielsweise durch Verletzung von Brandschutzvorschriften (BGH, Urt. v. 22.09.1972 – V ZR 8/71).
Wird der Überbau mit Einwilligung des Nachbarn errichtet, liegt ein rechtmäßiger Überbau vor. Diese Zustimmung ist auch mündlich wirksam, aus Beweisgründen aber besser schriftlich festzuhalten.
Anspruch auf Überbaurente – Entschädigung für geduldeten Überbau
Muss ein Grundstückseigentümer einen Überbau dulden, steht ihm nach § 912 Abs. 2 BGB ein Anspruch auf eine angemessene Geldrente (Überbaurente) zu. Diese Rente ist als Entschädigung für den Nutzungsverlust am überbauten Teil des Grundstücks zu verstehen.
Berechnung der Überbaurente:
Der BGH hat in mehreren Entscheidungen, unter anderem vom 12.10.2018 (Az. V ZR 81/18), klargestellt, dass die Höhe der Überbaurente wie folgt zu berechnen ist:
- Grundlage ist der Verkehrswert der überbauten Fläche zum Zeitpunkt der Grenzüberschreitung.
- Dieser Wert wird mit einem angemessenen Zinssatz (üblicherweise dem Liegenschaftszinssatz) verzinst.
- Spätere Änderungen des Bodenwerts oder Zinssatzes bleiben unberücksichtigt.
Wichtig: Nach Rechtsprechung des BGH ist für die Höhe der Überbaurente nicht relevant, ob und in welchem Umfang die tatsächliche Nutzung des überbauten Grundstücksteils beeinträchtigt wird. Es handelt sich um einen reinen Wertausgleichsanspruch und nicht um einen Schadensersatzanspruch.
Besonderheit bei Überbauten in Ostdeutschland vor 1990:
Bei Überbauten, die vor dem 3. Oktober 1990 im Beitrittsgebiet erfolgten, ist für die Berechnung der Überbaurente nicht der damalige DDR-Preis maßgeblich, sondern der Bodenwert eines vergleichbaren Grundstücks in den alten Bundesländern zum Zeitpunkt der Grenzüberschreitung (BGH, Urt. v. 28.01.2011 – V ZR 147/10).
Recht auf Grundstücksabkauf
Neben dem Anspruch auf Überbaurente hat der betroffene Grundstückseigentümer nach § 915 BGB jederzeit das Recht, vom Überbauenden den Ankauf des überbauten Grundstücksteils zu verlangen.
Für den Kaufpreis ist ebenfalls der Verkehrswert des Grundstücks zum Zeitpunkt der Grenzüberschreitung maßgebend, nicht der aktuelle Wert zum Zeitpunkt des Abkaufverlangens.
Rechtsfolgen bei nicht zu duldendem Überbau
Liegt ein rechtswidriger Überbau vor, den der betroffene Eigentümer nicht dulden muss, stehen ihm folgende Ansprüche zu:
- Beseitigungsanspruch nach § 1004 BGB
- Der betroffene Eigentümer kann die Beseitigung des Überbaus verlangen.
- Dieser Anspruch verjährt nach drei Jahren (§ 195 BGB).
- Herausgabeanspruch nach § 985 BGB
- Selbst wenn der Beseitigungsanspruch verjährt ist, kann der Eigentümer die Herausgabe des überbauten Grundstücksteils verlangen.
- Dieser Anspruch verjährt nach 30 Jahren (§ 197 BGB) bzw. unterliegt nach § 902 BGB als Anspruch aus einem eingetragenen Recht grundsätzlich keiner Verjährung.
- Anspruch auf Nutzungsentschädigung
- Der betroffene Eigentümer kann Entschädigung für die unrechtmäßige Nutzung seines Grundstücks verlangen.
- Diese entspricht mindestens der Höhe einer Überbaurente.
Der BGH hat in seiner Entscheidung vom 28.01.2011 (V ZR 147/10) klargestellt, dass der Herausgabeanspruch auch dann bestehen bleibt, wenn der Beseitigungsanspruch verjährt ist. Allerdings beschränkt sich dieser darauf, dass der Nachbar seinen Besitz aufgibt und dem Eigentümer den Besitz an dem überbauten Teil überlässt. Die Beseitigung des Überbaus selbst muss dann der Eigentümer vornehmen.
Sonderregelungen zur nachträglichen Wärmedämmung
In verschiedenen Bundesländern wurden spezielle Regelungen für Überbauten durch nachträgliche Wärmedämmung geschaffen. Hier besteht teilweise eine gesetzliche Duldungspflicht unter bestimmten Voraussetzungen:
- Baden-Württemberg (§ 7c NachbG): Duldungspflicht, sofern die Benutzung des Grundstücks nicht oder nur geringfügig beeinträchtigt wird.
- Bayern (Art. 46a AGBGB): Duldungspflicht, wenn die Beeinträchtigung geringfügig ist und eine vergleichbare Wärmedämmung nicht anders mit vertretbarem Aufwand möglich ist.
- Berlin (§ 16a NachbG): Duldungspflicht für Wärmedämmung bei Bestandsgebäuden, ohne weitere Einschränkungen.
- Brandenburg, Bremen, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Thüringen: Ähnliche Regelungen mit leicht unterschiedlichen Voraussetzungen.
Der Bundesgerichtshof hat mit Urteil vom 1. Juli 2022 (Az. V ZR 23/21) die Berliner Nachbarschaftsregelung zum Überbau durch Wärmedämmung für verfassungsgemäß erklärt, obwohl sie im Vergleich zu anderen Bundesländern weniger Einschränkungen vorsieht.
Bedeutende Gerichtsentscheidungen zum Überbau
Die Rechtsprechung hat verschiedene Aspekte des Überbaus konkretisiert:
- BGH, Urteil vom 28.01.2011, V ZR 147/10:
- Klarstellung, dass der Anspruch auf Herausgabe des überbauten Grundstücksteils nicht von der Durchsetzbarkeit des Beseitigungsanspruchs abhängt.
- Festlegung zur Berechnung der Überbaurente für Überbauten im Beitrittsgebiet vor 1990.
- BGH, Urteil vom 12.10.2018, V ZR 81/18:
- Bestätigung, dass die Überbaurente als reiner Wertausgleich unabhängig vom Ausmaß der tatsächlichen Nutzungsbeeinträchtigung zu berechnen ist.
- BGH, Urteil vom 01.07.2022, V ZR 23/21:
- Entscheidung zur Verfassungsmäßigkeit der Berliner Regelung zur grenzüberschreitenden Wärmedämmung.
- BGH, Urteil vom 19.09.2008, V ZR 152/07:
- Eine über die Grenzverletzung hinausgehende Beeinträchtigung des überbauten Grundstücks kann einer Duldungspflicht entgegenstehen.
- OLG Brandenburg, Urteil vom 22.05.2008, 5 U 58/07:
- Die Duldungspflicht nach § 912 BGB gilt auch für vor dem 3. Oktober 1990 errichtete Überbauten.
Praktische Handlungsempfehlungen
Für betroffene Grundstückseigentümer:
- Bei Feststellung eines Überbaus:
- Sofort schriftlich Widerspruch erheben, um die Duldungspflicht auszuschließen.
- Den Überbau dokumentieren (Fotos, ggf. Vermessung).
- Prüfen lassen, ob eine Duldungspflicht besteht.
- Bei bestehendem Überbau, der geduldet werden muss:
- Überbaurente geltend machen (ggf. auch rückwirkend unter Beachtung der Verjährung).
- Alternativ den Abkauf des überbauten Grundstücksteils verlangen.
- Bei rechtswidrigem Überbau:
- Beseitigung des Überbaus verlangen (unter Beachtung der dreijährigen Verjährungsfrist).
- Herausgabe des überbauten Grundstücksteils verlangen.
- Entschädigung für die unrechtmäßige Nutzung fordern.
Für Bauherren:
- Vor Baubeginn:
- Grundstücksgrenzen durch einen Vermessungsingenieur feststellen lassen.
- Bei Unklarheiten Absprachen mit dem Nachbarn schriftlich festhalten.
- Bei geplanter Grenzüberschreitung:
- Schriftliche Einwilligung des Nachbarn einholen.
- Vereinbarung über eventuelle Entschädigungen treffen.
- Nach versehentlichem Überbau:
- Prüfen, ob Voraussetzungen für eine Duldungspflicht vorliegen.
- Gegebenenfalls Überbaurente anbieten oder Abkauf des überbauten Grundstücksteils.
Fazit
Der Überbau im Nachbarrecht ist ein komplexes Thema mit erheblichen rechtlichen und wirtschaftlichen Implikationen für die betroffenen Grundstückseigentümer. Die gesetzlichen Regelungen versuchen, einen gerechten Ausgleich zwischen den Interessen der Beteiligten zu schaffen und wirtschaftliche Wertverluste zu vermeiden.
Als Grundstückseigentümer sollten Sie bei Feststellung eines Überbaus zeitnah handeln, um Ihre Rechte zu wahren. Als Bauherr sollten Sie durch sorgfältige Planung und Vermessung Überbauprobleme von vornherein vermeiden.
In komplexen Fällen oder bei Streitigkeiten ist es ratsam, fachkundigen Rechtsrat einzuholen. Als spezialisierter Rechtsanwalt stehe ich Ihnen gerne zur Verfügung, um Ihre individuelle Situation zu analysieren und Sie bei der Durchsetzung Ihrer Rechte zu unterstützen.
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