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Strafrecht: Rechtspsychologie in Deutschland

Interview mit Prof. em. Dr. Günter Köhnken über die Rechtspsychologie

Thomas Röth: Womit befasst sich die Rechtspsychologie, Herr Professor Köhnken?

Prof. em. Dr. Günter Köhnken: Im Großen und Ganzen gibt es in der Rechtspsychologie folgende Unterbereiche:

a) psychodiagnostische Begutachtung

b) Erklärung kriminellen Verhaltens

c) Prävention

d) Resozialisierung

e) Polizeipsychologie

f) Psychologie der Gerichtsverhandlung/außergerichtlichen Konflikt beilegen

g) psychologische Aspekte der Viktimologie

Wie kamen Sie zur Psychologie/Rechtspsychologie?

Ich war in Kiel an der Uni und habe dort das Diplom in Psychologie gemacht. Nach Abschluss des Diploms wurde Herr Prof. Hermann Wegener mein Mentor und ich war bei ihm als Assistent tätig und wurde dort auch promoviert. Herr Wegener war in den 60er/70er Jahren neben Prof. Undeutsch und Frau Müller-Luckmann auch in der Rechtspsychologie tätig. Ich habe bei ihm auch 1988 habilitiert.

Bevor ich mit dem Psychologiestudium anfing, hatte ich Siegmund Freud hoch und runter gelesen und wollte Psychoanalytiker werden, doch dann habe ich ein Wissenschaftsbuch über die empirische Forschung gelesen, das hat einen Sinneswandel bei mir verursacht. Dass es dann Rechtspsychologie bei Herrn Prof. Wegener wurde, ist eigentlich dem Zufall geschuldet.

Wie ist es um die Rechtspsychologie (institutionell) in Deutschland bestellt?

Schlecht! Es gibt keinen eigenen Lehrstuhl an den Universitäten mehr. Die, die damals Rechtspsychologie an Universitäten unterrichteten, waren so gut wie alle für andere Fächer in der Psychologie berufen worden. Es gibt in der Psychologie eine Reihe von Kernfächern, die unterrichtet werden müssen, und so bleibt dann kaum mehr Zeit für die Rechtspsychologie, und auch andere Professorenkollegen spielen bei Einrichtung eines solchen Faches nicht mit. Besser sieht es an privaten Hochschulen aus (z. B. in Hamburg und Berlin). Dort wird Rechtspsychologie unterrichtet. Man muss allerdings sagen, dass zwar nach der berühmten BGH-Entscheidung vom 30. Juli 1999 (BGH 1 StR 618/98) der Bedarf an Aussagepsychologen gestiegen ist, das Angebot aber nicht wirklich. Es gibt den Titel des „Fachpsychologen für Rechtspsychologie“. Hierfür gibt es auch eine Ausbildungsordnung. Man kann diese speziell Ausgebildeten unter www.rechtspsychologen-register.de finden.

Was finden Sie derzeit an Forschung in der Rechtspsychologie spannend?

Es gibt viele Verzweigungen in der Rechtspsychologie, die für sich sehr interessant sind: wie z. B. Prognosegutachten (das ist aber nicht mein Gebiet), also z. B. Kriminalitätsprognosen bei Migranten (siehe die Studie des Kriminologen Christian Pfeiffer Ende 2017 zur Flüchtlingskriminalität).

Dann finde ich immer wieder und immer weiter die Themen falsche Geständnisse und Wiedererkennung von Tätern interessant. Das Thema „Falsche Geständnisse“ ist in Deutschland ein völlig unterbelichtetes Thema. Da ist nachgerade die USA wesentlich besser dran. Beispielshalber möchte ich die Namen Kassin und Gudjonsson ins Feld führen (hingewiesen sei aber auf einen Aufsatz von Renate Volbert: Falsche Geständnisse – über die möglichen Auswirkungen von Voreinstellung, Vernehmung und Verständigung, in Forensische Psychiatrie, Psychologie, Kriminologie Nr. 7, 2013, S. 230–239, Anmerkung des Interviewers.)

Es wäre wünschenswert, dass auch mal in Deutschland die Häufigkeit des Widerrufs von Geständnissen untersucht würde und die Gründe für Wiederaufnahmeverfahren wegen falscher Geständnisse analysiert würden. Da sind, wie gesagt, die englischsprachigen Länder seit 1970 führend. Dies gilt auch für die Wiedererkennung von Tätern. Da gibt es in Deutschland so gut wie gar nichts. Toll fand ich einen Artikel von Herrn Odenthal (in StraFo Nr. 2013, S. 62–70 und einen Aufsatz von Prof. Eisenberg in der JR 2011, S. 119–124). Hier hat ja auch der BGH mit seiner Entscheidung vom 9. November 2011 (1 StR 524/11) einiges bewirkt. In Deutschland ist es aber nach wie vor ein Dunkelfeld, obwohl auch hier viele mögliche Fehlurteile auf falscher Wiedererkennung beruhen können. In Deutschland hat man meiner Ansicht nach auch das Problem, wenn man einen Beweisantrag auf Begutachtung wegen falschen Wiedererkennens stellt, dass der wohl in der Regel wegen der eigenen Sachkunde des Gerichts abgelehnt wird. Das erscheint mir zweifelhaft, denn um das Jahr 2000 herum wurde in den USA eine Studie veröffentlicht, wonach allein in diversen englischsprachigen, wissenschaftlichen Zeitschriften bis zum Jahr 2000 ca. zweitausend neue Artikel zu diesem Problem erschienen waren. Ich denke nicht, dass die Richter diese Artikel alle gelesen haben.

Womit beschäftigen Sie sich derzeit?

Ich beschäftige mich nur noch mit Gutachten, mache seit meiner Emeritierung mangels Ressourcen keine Forschung mehr. Meistens geht es bei den Gutachten um die Glaubhaftigkeit von Zeugen in Sexualstrafverfahren bei Aussage-Aussage-Konstellationen, gelegentlich sind es auch Kapital- oder Drogensachen. Bei Drogensachen ist es dann meistens so, dass ich die Glaubhaftigkeit einer Aussage (s. § 31 BtMG) zu prüfen habe. Bei Sexualdelikten war es so, dass ich zunächst in den 80er Jahren vorwiegend Kinderaussagen zu begutachten hatte. Das hat seit dem Jahr 2000 einigermaßen abgenommen, jetzt ist es eher so, dass die Aussagen Erwachsener begutachtet werden sollen. Ich bekomme die Aufträge meistens von der Staatsanwaltschaft, die eine Begutachtung braucht, um zu wissen, ob sie anklagen oder einstellen sollen. Schwierig ist es allerdings, wenn Kinderaussagen zu prüfen sind und nicht fachgerecht die Aussage dokumentiert wurde.

Was können Sie uns über den Umgang mit Sachverständigen und deren Gutachten für die anwaltliche Sicht mit an die Hand geben?

Es kommt immer darauf an. Wenn ich von der Staatsanwaltschaft oder dem Gericht geladen werde, werde ich meiner Erfahrung nach in der Regel mit Respekt behandelt. Wenn mich die Verteidigung lädt, kann es manchmal schon schwierig werden. In manchen Fällen ist es nämlich so, dass mich die Verteidigung/der Angeklagte qua Gerichtsvollzieher lädt (§ 220 StPO), mich sozusagen nach der StPO per Zwang in das Verfahren befördert und ich mich dann mit einem bereits bestehenden Gutachten auseinandersetze und zum Beispiel zu dem Schluss gelange, dass das Gutachten nicht haltbar ist. Dann hat das Gericht das Problem, dass es sich auf das Erstgutachten eventuell nicht mehr verlassen kann und erst mal noch kein weiteres hat. Manchmal habe ich auch nur den Auftrag einzuschätzen, ob die Aussagen in Ordnung sind, damit danach die Strategie ausgerichtet werden kann.

Erstellen Sie auch methodenkritische Zweitgutachten?

Ja!

Womit haben Sie sich hauptsächlich in Ihrem Berufsleben rechtspsychologisch beschäftigt?

Ich habe mich überwiegend mit dem Thema Aussagen und Interviewtechniken befasst. Ich habe dazu dann auch Fortbildungsveranstaltungen angeboten und zum Beispiel auch die Polizei für Kinderbefragungen geschult.

Was können Sie uns in diesem Bereich über den Zustand der Justiz aus rechtspsychologischer Sicht mitteilen?

Das ist eine ganz schwierige Frage. Polizei und Justiz sind ja Ländersache, so dass ein einheitlicher Befund schwerfällt. Es gibt wesentlich mehr Angebote als früher. Ich habe aber manchmal den Eindruck, dass die, die man erreichen müsste – damit sie rechtspsychologische Kenntnisse haben und umsetzen –, dass man die nach wie vor nicht erreicht. Wenn ich mir Fallzahlen von Richtern ansehe, kann ich das manchmal auch nachvollziehen. Aber im Durchschnitt kann man schon sagen, dass die rechtspsychologischen Kenntnisse bei der Polizei und der Justiz nicht besonders groß sind (bei der Justiz größer als bei der Polizei und bei der Polizei in den Sonderdezernaten größer als bei den übrigen).

Wie finden Sie die Dokumentation im Strafverfahren in Deutschland?

Das ist eine Katastrophe! Es sollte als Audio bzw. audiovisuell aufgezeichnet werden. Es muss ja nicht immer gelesen werden, aber es sollte in Zweifelsfällen anhör- bzw. ansehbar sein. Wir können als Aussagepsychologen wenig tun, wenn wir keine gute Dokumentation haben. So kenne ich einige Dokumentationen, die folgendermaßen gefertigt werden: Es wird zunächst ein Vorgespräch geführt zwischen Polizist und zu vernehmender Person, das nicht dokumentiert wird. Dann wird das Diktiergerät angeschaltet und die Frage des Polizisten aufgenommen. Dann wird das Gerät ausgeschaltet und dann diktiert der Polizist die Zusammenfassung des Gesagten der zu vernehmenden Person ins Diktiergerät. Manchmal bekomme ich auch Material, in welchem die Frage nicht protokolliert wird, sondern nur die Antwort. Die beiden Argumente, die Technik sei noch nicht reif und es sei zu teuer, halte ich für Quatsch. Ich habe ein digitales Gerät, das hat ca. 60,00 Euro gekostet, und der Schreibdienst muss doch nicht alles abschreiben. Wenn die Beteiligten mit der Vernehmung kein Problem haben, dann muss man auch nicht in die Details der Dokumentation gehen. Mir ist es schleierhaft, warum es da so ein Beharrungsvermögen gibt. Als damals die Verpflichtung zur Videoaufzeichnung in Großbritannien eingeführt wurde, war ich gerade in England und arbeitete mit dem Rechtspsychologen Bull zusammen. Der bekam vom Ministerium den Auftrag, die internationale Forschung zur Dokumentation, insbesondere Videoaufzeichnungen, zusammenzustellen. Dann wurden Guidelines vom Ministerium erlassen, die die Polizei einzuhalten hatten. Es stellte sich z. B. dabei heraus, dass die Befürchtung, Kinder würden bei Aufnahmen nichts mehr sagen, falsch war. Nämlich genau das Gegenteil war richtig: Das Problem hatten eher die Befrager, nicht die Kinder.

Was wäre Ihr Wunsch für die Rechtspsychologie und für das Strafrecht?

Ich würde mir wünschen, dass die Rechtspsychologie an den Unis besser etabliert würde. Es wäre hilfreich, die Hauptverhandlungen, insbesondere am Landgericht und auch im Ermittlungsverfahren, zu dokumentieren. Weiter würde ich mir wünschen, dass die rechtspsychologischen Erkenntnisse der letzten Jahrzehnte besser in der Justiz und bei den Strafverfolgern vorhanden wären und umgesetzt würden.

Was lesen Sie gerade Spannendes im Rahmen der Rechtspsychologie und was können Sie den Lesern empfehlen?

Also, wer in deutscher Sprache an Grundlagen interessiert ist, sollte sich vielleicht das im Jahr 2014 erschienene Lehrbuch der Rechtspsychologie (Bliesener/Lösel/Köhnken [Hrsg.], Huber Verlag, 576 Seiten, 69,95 Euro, Anmerkung des Interviewers) mal durchlesen. Es dürfte das nach wie vor Neueste sein. Ansonsten kann ich als Zeitschrift im deutschsprachigen Raum die Zeitschrift „Forensische Psychiatrie, Psychologie, Kriminologie“ empfehlen, und dann gibt es auch noch die Jahrgangshefte „Praxis der Rechtspsychologie“.

Professor Köhnken, vielen lieben Dank für dieses Gespräch.

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