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Wann sind (Zeugen) Aussagen wahr (erlebnisbasiert)?

Am 19.04.2014 war Herr Prof. Dr. Max Steller Gast beim Arbeitskreis Strafrecht. Er referierte zum Thema forensisch-psychologische Glaubhaftigkeitsbegutachtung - zum Realitätsgehalt der Aussagen von Opferzeugen.

Professor Max Steller war bis zu seiner Emeritierung am Institut für forensische Psychiatrie an der Charité in Berlin tätig. Er hat seit 1970 für die Durchsetzung aussagepsychologischer Standards in der Bundesrepublik Deutschland gearbeitet. Er war als Gutachter in den Mainzer Kindesmissbrauchsprozessen (Worms I bis III) tätig und hat auch als Sachverständiger maßgeblichen Anteil an der Grundsatzentscheidung des BGH (1 StR 618/98= BGHSt 45,164) zu Minimalanforderungen an die Qualität aussagepsychologischer Gutachten.

Artikel von Rechtsanwalt Thomas Röth, erschienen im Berliner Anwaltsblatt (2014, Seite 2014 150 f.)

Prof. Steller referierte ca. 90 Minuten und machte uns mit den Standards der Aussagepsychologie und der Begutachtung vertraut. Sein Vortrag war wegen der vielen Beispiele sehr anschaulich. Es gab auch Hinweise zu gut lesbaren journalistischen Büchern (z. B. Gisela Friedrichsen "Im Zweifel gegen die Angeklagten" oder Sabine Rückert "Unrecht im Namen des Volkes"). Prof. Steller nahm zu einigen Themen punktuell Stellung. Der Verfasser wird zwecks Einbettung in den Gesamtzusammenhang manchmal etwas hinzufügen.

Die aussagepsychologische Glaubhaftigkeitsbegutachtung wird an einigen Stellen des Rechtslebens durchgeführt (z.B. im Strafrecht: Begutachtung des Opfers bei Kindesmissbrauch und/oder Vergewaltigung ohne weitere Beweise, bei Beschuldigten mit verschiedenen Geständnissen; im Familienrecht bei Kindeswohlgefährdung, im Sozialrecht bei OEG-Antragsfällen mit fehlenden Beweisen).

Der Glaubhaftigkeitsbeurteilung geht es letztendlich um die Beantwortung der Frage, ob diese konkrete Aussageperson mit ihren gegebenen individuellen Voraussetzungen unter den gegebenen Befragungsumständen und unter Berücksichtigung der im konkreten Fall möglichen Einflüsse Dritter diese spezifische Aussage gemacht haben kann, ohne dass diese auf einem realen Erlebnishintergrund beruht. Es geht also nicht um die allgemeine Glaubwürdigkeit der Person (Status), es geht um die Glaubhaftigkeit der konkreten Aussage zum untersuchten Sachverhalt. Die Körpersprache (nonverbales Verhalten) spielt hierbei für die Aussagepsychologie keine bedeutende Rolle.

Ob eine konkrete Aussage erlebnisbasiert ist, wird in mehreren Stufen hypothesengeleitet geprüft. Eine der Hypothesen im Hintergrund ist immer, ob diese Person das auch ohne Erlebnisgrundlage sagen könnte (was natürlich auch mit der Kompetenz der konkreten Aussageperson zu tun hat). Die Aussage ist daraufhin zu untersuchen, ob die Aussageperson sich geirrt haben, einer Suggestion unterlegen oder gelogen haben könnte. Die Lüge ist eine geistige Leistung, die die Fähigkeit hierzu, eine Motivation hierzu und Wissenselemente voraussetzt. Sie ist bei kleineren Kindern eher nicht anzunehmen, da die Grundfähigkeit (als auch das Wissenselement) dazu fehlen dürften. Professor Steller gab bei Verdacht auf Lüge den Tipp, die Aussageperson viel reden zu lassen und zuzuhören, dann sei die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sich die „kurzen Beine“ zeigen würden, da die lügende Aussageperson auch eine strategische Selbstpräsentation benötige (die Frage bei Lügenverdacht lautet: würde sich dieser Zeuge so äußern, wie es in der Aussage der Fall ist?). Irrtümer können während der Informationsaufnahme (Wahrnehmungsdauer, Sichtverhältnisse, Erwartungseffekte, Angst), während der Speicherungsphase (Vergessen und Erinnern, persönliche Bedeutung des Wahrgenommenen, Verzerrung der Erinnerung durch Falschinformationseffekte) und durch Einflüsse bei dem Abruf des Wahrgenommenen (Suggestion) hervorgerufen werden.

Suggestion

Die Suggestion kann in zwei Unterbereiche unterschieden werden: Falschinformationseffekte (das infrage stehende Ereignis hat tatsächlich stattgefunden, wird aber in der Erinnerung verändert) und Pseudoerinnerungen (die nicht originär erlebt wurden).

Falschinformationseffekte können u.a. dadurch entstehen, dass nach Details gefragt wird, die nicht sehr gut erinnert werden. Kinder neigen leicht dazu, suggestivem Druck während der Befragung nachzugeben und die in der suggestiven Frage enthaltenen Elemente zu übernehmen. Herr Prof. Steller führte zu diesem Thema aus, dass bei Kindern und bei erwachsenen Personen, die Jahrzehnte später „plötzlich“ entdecken, dass sie in ihrer Kindheit missbraucht wurden, in der Begutachtung auf die Suggestionshypothese viel Wert zu legen ist. Bei Kindern führt es dazu, dass man sich die Entstehungsgeschichte der Aussage des Kindes genau ansehen muss (war die erste Aussage eine spontane oder durch „Aufdeckungsarbeit“ erwirkt), bei erwachsenen Personen sollte man der Suggestionshypothese u.a. dann nachgehen, wenn das infrage stehende Ereignis lange zurück liegt, die Aussageperson vor der ersten Aussage eine Psychotherapie gemacht und eine gewisse Disposition für Suggestibilität hat. Suggestionsbedingte Aussagen weisen eine hohe Inhaltsqualität auf, so dass die inhaltsanalytische Qualitätsanalyse bei solchen Aussagen nicht weiterhilft.

Anzeichen für Scheinerinnerungen sind z. B. Erinnerungssuche bzw. –arbeit, Erinnerungskonkretisierungen, Scheingenauigkeiten, bizarre oder irreale Inhalte sowie Imaginationsübungen, Visualisierungstechniken, Grübeleien, Tagträume und Ähnliches. Suggerierte Vorstellungsinhalte entstehen häufig, wenn die Aussageperson subjektiv psychische Probleme oder Unsicherheiten empfindet und dafür Erklärungsbedarf hat, wenn direkte oder indirekte Vorgaben zur Verringerung der Unsicherheiten durch Autoritätspersonen mit Sozialprestige gemacht werden (z. B. Therapeuten oder Einflüsse durch Medien). Es kann dann zur sukzessiven Übernahme und Ausgestaltung der indirekten und direkten Vorgaben als vermeintliche Erinnerung kommen. Die Funktion ist dann auch die Externalisierung von eigenem Insuffizienzerleben, dies festigt die subjektive Evidenz und damit die Scheinerinnerung. Suggestionsbedingten Aussagen weisen eine hohe Inhaltsqualität auf, so dass die inhaltliche Qualitätsanalyse kein probates Instrument zur Aufdeckung von suggestionsbedingten Aussagen ist. Hier kommt es auf die Überprüfung der oben angegebenen Indizien und die Aussageentstehungs- bzw. -entwicklungsanalyse an. Sollte eine potentiell suggestive Vorgeschichte der Aussage festgestellt werden, ist ihr Beweiswert zerstört.

Professor Steller führte dann zu dem Problem aussagepsychologischer Begutachtung bei Borderline-Persönlichkeitsstörungen aus, dass es hierbei um eine Anfälligkeit für auto- und heterosuggestive Prozesse geben kann, mit der Folge, dass es zu umdeutenden Aggravationen und oder Pseudoerinnerungen kommen kann.

Zum Thema posttraumatische Belastungsstörung (= PTBS) und aussagepsychologische Begutachtung gab er an, dass die posttraumatische Störung (sie soll ja eine Reaktion auf ein traumatisches belastendes Ereignis sein) nur diagnostiziert werden soll, wenn sie innerhalb von 6 Monaten nach dem traumatisierenden Ereignis aufgetreten ist. Manchmal kommt es zu Zirkelschlüssen, indem von den Symptomen einer PTBS (wiederholte unausweichliche Erinnerungen oder Wiederinszenierung des Ereignisses im Gedächtnis, in Tagträumen oder Träumen) auf die Diagnose einer PTBS geschlossen werde, ohne das Trauma zu objektivieren und dann später nur noch einen Rückgriff auf die Diagnose stattfindet zum Beleg für den Realitätsgehalt von gegebenenfalls widersprüchlichen, rudimentären und bizarren Schilderungen.

Bei multiplen Persönlichkeiten ist die aussagepsychologische Begutachtung grundsätzlich fraglich bzw. die Aussagetüchtigkeit für autobiographische Angaben aufgehoben. Bei der dissoziativen Identitätsstörung besteht eine Disposition für Realitätsverkennungen.

Vorgehensweise: Die Glaubhaftigkeitsgutachtung bedarf der Erfahrung und ist keine Checklistenbegutachtung. Sie bedient sich immer wieder der gleichen Instrumente (schlagwortartig aufgezählt): Aussageanalyse, Strukturvergleich, Konstanzanalyse und Analyse der Aussageentstehung und –entwicklung – jeweils auf dem Hintergrund von Analysen der Leistungsmöglichkeiten und Erlebnisdispositionen der Aussageperson.

Aussageanalyse (= inhaltsanalytische Qualitätsanalyse)

Bei der Aussageanalyse handelt es sich um einen Qualitäts-Kompetenzvergleich, der inhaltsanalytisch anhand von Realkennzeichen durchgeführt wird. Dahinter steht die Erkenntnis: Eine erlebnisbegründete Aussage ist von überlegener Qualität. Die Erfindungskompetenz der Aussageperson wird mit berücksichtigt.

Generell wichtig ist selbstverständlich eine gute Dokumentation der Aussagen, und hier sagte Prof. Steller ganz deutlich, dass er sich Videovernehmungen bzw. zumindest Tonbandmitschnitte viel häufiger wünschen würde. Es wird also bei der Aussageanalyse nach der Hypothese vorgegangen „Kann mich die Aussage der konkreten Person anhand ihrer Realkennzeichen davon überzeugen, dass es sich hier mit hoher Wahrscheinlichkeit um etwas Erlebnisbasiertes handelt“? Prof. Steller hat zusammen mit Prof. Köhnken 1989 eine Liste an Realkennzeichen veröffentlicht. Es wird vor schematischer Anwendung dringend gewarnt. Sie ist in jedem guten Aufsatz/Buch über die Aussagepsychologie zu finden.

Der Strukturvergleich

Hier werden von ein und derselben Aussageperson Aussagen zum Kerngeschehen mit der qualitativen Ausprägung von Schilderungen zu nichttatbezogenen Inhalten verglichen. Das Instrument dient der Ermittlung der Kompetenz des Aussagenden für sprachliche Darstellungen.

Die Konstanzanalyse

Sie setzt voraus, dass von einer Person mehrere Aussagen zu verschiedenen Zeitpunkten über denselben Sachverhalt vorliegen. Die Konstanzanalyse geht davon aus, dass selbst erlebte Ereignisse länger im Gedächtnis behalten werden, als nur Vorgestelltes. Bei Wiederholung von Aussagen über selbst erlebte Ereignisse gibt es mehr Übereinstimmungen hinsichtlich des Kerngeschehens als bei erfundenen Aussagen und trotzdem ist mit Erinnerungsverlusten, die ungleichmäßig verlaufen, zu rechnen. Der Begutachter fragt sich also hinsichtlich des Kerngeschehens erwarte ich eine Konstanz und wo darf ich Inkonstanz erwarten?

Professor Steller führte zur Glaubhaftigkeitsbegutachtung von Beschuldigten aus. Bei reiner Tatverneinung gibt es kein Material für eine Inhaltsanalyse. Auch hier wird mit den oben angegebenen Instrumenten vorgegangen. Bei widersprechenden bzw. widerrufenen Geständnissen lautet die Frage: War eine Erfindung des Geständnisinhalts denkbar? Gab es zu wenig oder zu viel inhaltliche Qualität als Konstruktionsfehler für eine Lüge?

Im Folgenden beschäftigte er sich mit dem Streit um die „Nullhypothese“. Nullhypothese bedeutet, dass der Sachverständige zunächst annimmt, die zu prüfende Aussage sei unwahr, bis er anhand von positiven Indizien diese Hypothese nicht mehr aufrecht erhalten kann. Dies führte zu einem beachtlichen Streit. Das Wort selbst ist jedoch nicht wichtig, sondern es muss sichergestellt sein, dass das Denkprinzip (Falsifikation von Alternativüberlegungen) im Begutachtungsprozess beachtet wird.

Professor Steller nahm noch zur Frage von methodenkritischen Stellungnahmen zu bereits vorliegenden Gutachten („Privatgutachten“) Stellung. Privatgutachten sind seiner Ansicht nach weder unkollegial noch notwendig parteiisch oder berufsethisch verwerflich. Die Erstellung eines Gutachtens über ein Gutachten setzt die Kenntnis der Akten nicht nur des Primärgutachtens voraus. Ein Gutachten über ein Gutachten sollte nicht extensiv irrelevante Mängel auflisten, es sollte sich auf ergebnisrelevante Mängel beschränken.

Prof. Steller führte am Ende aus, dass ihm in über 40 Jahren Begutachtung auch viele „Schlechtachten“ untergekommen sind. Auf Frage, ob er ausschließen könne, einem „Lügner“ auf den Leim zu gehen, antwortete er, dass er das selbstverständlich nicht könne, allerdings sei die Glaubhaftigkeitsbegutachtung derzeit das einzige wissenschaftliche Mittel zur Überprüfung der „Wahrheit“ einer Aussage. In der Mehrzahl seiner Begutachtungen sei er zu dem Ergebnis gekommen, dass die Aussage wohl erlebnisbasiert sei.

Prof. Steller gab an, dass die mediale Aufheizung, insbesondere von Kindesmissbrauchsprozessen, wohl in Wellen von statten geht. In den 80-ern gab es den großen McMartin-Prozess in der USA, Ende der 80-er z. B. den Cleveland-Fall in Großbritannien, Mitte der 90-er den Montessori-Prozess in Münster, den Flachslanden-Prozess in Ansbach und die Wormser Prozesse in Mainz, und derzeit soll es große Prozesse in Osteuropa geben.

Forensische Aussagepsychologie, so sein Fazit, gewährleiste also ein doppelten „Opferschutz“, indem sie zum einen den Realitätsgehalt von Opferaussagen substantiiere und zum anderen Falschaussagen identifiziere. Sie biete eine gute Möglichkeit für rationale Problemlösungen in einem emotionalisierten Feld.

Wir danken Herrn Prof. Steller recht herzlich für seine Bereitschaft, beim Arbeitskreis Strafrecht zu referieren und uns aufzuklären. Gerade in Fällen „Aussage gegen Aussage“ ist das Mittel der aussagepsychologischen Begutachtung und der Auseinandersetzung damit, wohl die einzige „objektivierbare“ Möglichkeit und dementsprechend für Strafrechtler unverzichtbar.

Hinweise:

Das Institut der forensische Psychiatrie (und Psychologie) der Charité bietet immer wieder sehr interessante Veranstaltungen an (s. www.forensik-berlin.de), so z.B. am 13. Juni 2014 zum Thema: Gestehen-Leugnen- Schweigen, Taktiken der Wahrheitsfindung im Strafverfahren.
Der AK Strafrecht macht am 21.05.2014 eine Veranstaltung zum Thema „Whistleblowing und Hinweisgebersysteme: was Straf- und Arbeitsrechtler darüber wissen sollten“ und wird am 18.06.2014 das Krankenhaus des Maßregelvollzuges in Berlin besuchen.

Rechtsanwalt Thomas Röth, Fachanwalt für Strafrecht, Richter am Anwaltsgericht sowie Sprecher des AK Strafrecht beim BAV.

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